Karosh Taha
Die Arbeit “Der Stoff / Kras û fistan“ als eine Mehrkanalvideo Installation zeigt eine tanzende Frauengruppe, formiert in einer Linie, die Kleidung mit weißem Gips übermalt. Der Tanz, sonst im Kreis oder Halbkreis stattfindend, ist hier eine Gerade. Sie sehen sich nicht, und sie sehen auch einander nicht, während sie den Blicken ausgesetzt sind. Obwohl sie sich in einer Gruppe befinden, scheint jede einzelne für sich zu sein, nur durch die Berührung der Schultern, durch das Reiben der Stoffe aneinander, durch die Energie, wird die Präsenz der anderen Frauen für die einzelne wahrnehmbar.
Weiße Skulpturen wecken die Assoziation antiker Plastiken: Doch sie sind die Umkehrung dieser Skulpturen, denn sie bewegen sich, sie sind gekleidet, und damit auf eine andere Art nackt.
Sie tanzen sich aus der Starre, kämpfen sich aus dem Weiß, bewegen sich aus dem Negierten, befreien sich aus Assoziationen, verwandeln und offenbaren sich in der Bewegung: ein Entblößen ohne Haut zu zeigen, ihr Selbst und Sein entlarven, wenn sie ihre Kras u Fistan zeigen: sich verwundbar machen, weil die kurdische Tracht im Tanz und durch den Bruch des Gips zu sehen ist, die Fragilität ihrer Körper freilegt. Der eingegipste Stoff schützt nicht, er heilt nicht den Bruch. Der Stoff, der Schnitt der Kleider dem kurdischen Volk ein Symbol ist ein Bekenntnis ihres Kurdischseins. Der Stoff, die Tracht, die Kris u Fistan, die Bewegung sind die physischen Manifestationen dieser kurdischen Frauen, die sie zur Zielscheibe vieler Regime macht. Kunst wird politisch, wenn Politik versagt.
Ein Bild im Bild kann gleichzeitig eine Performance auf Video sein, das eine Collage ist. Havin Al-Sindy arbeitet mit Lagen, mit Ebenen, mit Schichten, die Betrachtende zum Stillstand zwingen, während sich das Werk, in Bewegung, wandelt.
Der Gips, der zu Bruch geht, zu Bruch getanzt wird, legt die Figur der Frauen frei; als würden sich die Frauen beim Tanzen selbst formen; die Künstlerin, die sie eingegipst und bei diesem Prozess ihre Bewegungsfreiheit geraubt hat, ist während der Performance nicht mehr Schöpferin ihres Werkes, das Werk verselbständigt sich im Tanz: auch dies ist eine politische Analogie. In den Brüchen, in der Verwandlung steckt das Wahrhafte, steckt das, was ist. Im Tanz wird das Innere nach außen gekehrt.
Wenn der Tanz der körperliche Ausdruck ist, den wir in der Sprache nicht finden, was erzählt dann dieses Werk? Wie kann es in Sprache übersetzt werden? Auch auf die Gefahr einer Fehlübersetzung, muss der Versuch unternommen werden:
Im Gespräch erzählt mir Havin, sie verstehe den kurdischen Tanz als Akt des Widerstandes. Es ist sogar mehr: es ist eine Kampfansage, weil er eine Gruppe zusammenruft, sie organisiert, sie sich im Rhythmus bewegen lässt, sie zur Bewegung ruft. Der laute Klang des brechenden Gips, das unaufhörliche Stampfen der Füße im Gips, das Rascheln der Pailletten erinnert an einen Marsch. Früher sind Frauen ihren Männern in die Bergen gefolgt, später folgten die Männer ihnen in die Berge. Sie waren immer ein wesentlicher Teil des kurdischen Kampfes. Ich weiß: Ohne die kurdische Frau würde der kurdische Widerstand zusammenbrechen.
Die Choreographie dieses Tanzes kennt keinen Anfang, der Beweggrund ist die Lust; der Tanz besteht aus diesem langen Mittelteil, der jederzeit abbrechen kann, womit der Abbruch das unvorhersehbare Ende markiert. Im Video werden die Frauen solange tanzen, wie die Ausstellung dauert, bis zur körperlichen Erschöpfung, bis alles zu Bruch gegangen ist, werden sie getanzt haben.
Um an den Kern zu gelangen, muss ein Bruch vorangegangen sein, in all seinen Facetten: Die Berührung, die Bewegung, die Befreiung führen zu Brüchen. Die abgebrochenen Gipsstücke auf dem Boden bezeugen die Präsenz der Frauenkörper, der „orientalisch gelesene Körper“ bricht den gewohnten Blick der Zuschauenden, die diese Körper mit dem erotischen Bauchtanz assoziieren. Es ist wichtig, die Frauen anzuschauen, ohne sie zu exotisieren, zu erotisieren, zu fetischisieren.
Mit Emanuel Lévinas gesprochen: Wir sehen die Gesichter dieser Frauen, ihr Antlitz, wir erkennen ihre Existenz und diese Erkenntnis des Anderen verpflichtet uns Verantwortung zu übernehmen, dass diesem Anderen kein Leid zugefügt wird, dass der Andere nicht den Tod erfährt, weil er der Andere ist.
Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo/Irak geboren. Seit 1997 lebt sie im Ruhrgebiet. Ihr Debütroman "Beschreibung einer Krabbenwanderung" erschien 2018 bei DuMont. Die Hörspielfassung ihres Romans wird 2021 bei WDR3 und COSMO ausgestrahlt. Karosh Taha erhielt für ihr Werk bereits zahlreiche Stipendien und Preise, darunter das Stipendium Deutscher Literaturfonds, den Hohenemser Literaturpreis und die Alfred-Döblin-Medaille.
Die Texte “Community versprechen” von Şeyda Kurt, “[kəˈmjuːnɪti]” von Sinthujan Varatharajah und “Havin Al-Sindy Kras û Fistan – Eine literarische Annäherung” von Karosh Taha gehören zu einer ursprünglich als Printmedien angedachten Publikationsserie, zusammengestellt und mit konzipiert durch Fatima Khan.
Foto(s): Dirk Rose. Mit freundlicher Genehmigung von Ihsan Alisan / Mouches Volantes.